11 Sep. 2023 21:04 Uhr
Haben Wahlen schon mal etwas Entscheidendes bewirkt? Nicht zu den Lebzeiten des Autors. Doch kurze Zeit vor seiner Geburt hat die Selbstorganisation des Volkes in einem fernen Land einen Mann an die Spitze gespült, der es tatsächlich ernst meinte mit Reformen. Es gelang trotzdem nicht: Heute vor 50 Jahren zog jemand die Notbremse.
Von Anton Gentzen
Eines vorab: Die Rede ist nicht von dem Ideal einer Herrschaft des Volkes, das sich selbst ‒ über Referenden oder gewählte Vertreter ‒ regiert.
Die Rede ist von der Realität des politischen Systems im Kapitalismus, wo ein Armer eben nicht dasselbe Gewicht hat wie ein Superreicher.
Ein Superreicher ist mit seinen Hunderten von Milliarden Euro oder Dollar in der Lage, Presse und Medien, Polittechnologen und Politiker zu kaufen, die dem Volk das Hirn waschen und es mit immer neuen Einfällen in die gewünschte Richtung treiben.
Die Normalbürger sind auf Stimmabgabe ein Mal in vier oder fünf Jahren beschränkt und müssen dabei aufgrund von manipulierten Informationen aus einem sehr eingeschränkten Angebot wählen. Egal, wen und was sie wählen, den Kurs bestimmen die Superreichen.

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Genau das müssen aktuell die Millionen Ukrainer erleben, die vor vier Jahren den Kurs in EU und NATO, Russophobie, Nationalismus und Krieg abgewählt hatten, und dennoch wieder das bekamen, was sie abwählten.
Erinnern wir uns: Von Mai 2014 bis Mai 2019 war Petro Poroschenko Präsident der Ukraine. Er wurde in nicht gerade freien Wahlen mit einem Friedensversprechen gewählt, eskalierte jedoch sofort nach Amtseinführung den Krieg im Donbass, sabotierte anschließend die Minsker Verträge und begann gegen Ende seiner Amtszeit Russisch aus Schulen und dem öffentlichen Leben zu vertreiben. Immerhin hielt er das Land fest auf westlichem Kurs, unterzeichnete das Assoziierungsabkommen mit der EU und erstritt sogar Visumfreiheit für die Ukrainer. Wenn einfache Ukrainer so sehr in die EU und NATO streben würden, wie es uns die westliche Propaganda suggeriert, hätten sie Poroschenko für eine zweite Amtszeit wiederwählen müssen.
Doch Poroschenko bekam bei den Wahlen 2019 eine deutliche Abfuhr. 73 Prozent der ukrainischen Wähler stimmten im zweiten Wahlgang nicht so sehr für Selenskij wie gegen Poroschenko. Sie entschieden sich für einen russischsprachigen Juden mit Geschäftsinteressen in Russland, dessen Sendungen bis dahin ausschließlich auf Russisch liefen und der im Wahlkampf versprach, um des Friedens willen mit dem Teufel selbst zu verhandeln.
Wie sonst kann dieses deutliche Votum verstanden werden als die Abwahl des prowestlichen, antirussischen Nationalismus und vor allem ein Auftrag, den Krieg im Donbass und die Konfrontation mit Russland zu beenden?
Doch nichts von dem Versprochenen hat Selenskij erfüllt, im Gegenteil: Er verschärfte den nationalistischen Kurs des abgewählten Vorgängers, intensivierte den Krieg gegen den Donbass noch mehr, sabotierte die Umsetzung der Minsker Verträge und verbot nacheinander alle oppositionellen Medien und Oppositionsparteien des Antimaidan-Spektrums. Die unter Poroschenko erlassenen Gesetze gegen die russische Sprache blieben unangetastet, russische Schulen blieben verboten und Repressionen gegen Russischsprachige wurden verschärft.

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Statt des versprochenen Friedenskurses ließ Selenskij die NATO ins Land, rüstete massiv auf und drohte Russland sogar mit Atomwaffen. Im Februar 2022 reagierte Moskau darauf, und das Blut eines jeden seitdem getöteten Ukrainers klebt an Selenskijs Händen.
Wie konnte es dazu kommen, dass die Wähler das genaue Gegenteil dessen bekamen, wofür sie stimmten?

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Nun, das ukrainische Beispiel ist nur der neueste, bei weitem aber nicht der einzige Beweis dafür, dass Demokratie unter kapitalistischen Bedingungen nicht funktioniert. Es gibt unzählige propagandistische und polittechnologische Instrumente, mit denen die echten Machthaber ‒ in der Ukraine wie anderswo sind es Oligarchen ‒ das Denken und das Wahlverhalten des Stimmvolkes lenken, und immer neue werden laufend erfunden. Es gelingt immer wieder, dem Volk hübsch aufgemotzte Schauspieler vorzusetzen, die ihm vor der Wahl nach dem Maul reden. Nach der Wahl weichen diese Demagogen jedoch keinen Grad von dem von den Hintermännern vorbestimmten Kurs ab.
Man könnte es Pseudodemokratie nennen, in Wahrheit ist es eine geschickt getarnte Diktatur. Die Tarnung ist nötig, damit die Widerstände nicht zu groß werden. Direkte Gewalt ist mit mehr Kraftaufwand verbunden als Betrug ‒ der Betrüger hat ein leichteres Leben als ein Räuber oder ein Geiselnehmer.
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Er muss nur immer weiter betrügen. Das Kalkül der wirklichen Machthaber besteht darin, dass wir in unserer Masse immer wieder und immer weiter auf ihre polittechnologischen Tricks hereinfallen, dass wir weiter für jeden Selenskij stimmen, den sie uns vorsetzen.
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Doch was, wenn es eines Tages schiefläuft? Was, wenn das Volk seinen wahren Feind erkennt, den Fernseher abschaltet, sich selbst organisiert und seine echten Vertreter nach oben führt? Oder wenn die sorgfältig ausgewählten Schauspieler rebellieren und mehr der Geschichte denn ihren Strippenziehern gegenüber Verantwortung spüren?
Auch darauf hat die Oligarchie eine Antwort: Das Spektakel der Pseudodemokratie wird, wenn es wirklich ans Eingemachte geht, sofort abgeblasen und das Publikum mit Gewehren aus dem Saal getrieben.
Wie in Chile vor 50 Jahren.
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Die Ukraine bekommt ein Parlament mit vielen neuen Gesichtern. Man redet sogar von einem Generationswechsel in der ukrainischen Politik. Das Erbe der Poroschenko-Regierung bleibt trotzdem unangetastet. Möglich ist das durch das System der „Verwaltung von außen“.
von Wladislaw Sankin
Die Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ hat in der Ukraine die Wahlen zur Werchowna Rada (Oberster Rat), dem ukrainischen Parlament, klar gewonnen. Dank einer Vielzahl an Direktmandaten kann sie sogar ohne Koalitionspartner regieren. Da die Ukraine eine parlamentarisch-präsidiale Republik ist, waren vorgezogene Wahlen für den Präsidenten Wladimir Selenskij besonders wichtig. Er ist seit genau zwei Monaten offiziell im Amt.

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Denn er will die Politik in seinem Land, wie es in den deutschen Medien heißt, „völlig umkrempeln“ – zum Besseren, versteht sich: den Krieg in der Ostukraine beenden und vor allem korrupte Machtstrukturen von Grund auf erneuern. Nach wie vor liefert sich Selenskij einen verbalen Schlagabtausch mit seinem Vorgänger Petro Poroschenko, dessen eigenes Machtsystem sich derzeit in Auflösung befindet. Sogar in Russland gibt es unter den Politikern einige Optimisten, die glauben, dass Selenskijs Chancen auf eine grundlegende politische Wende in der Ukraine noch nicht verspielt sind.
Für Russland sind besonders die Fortschritte bei der friedlichen Lösung des Donbass-Konflikts und eine Verbesserung der Beziehungen zum Nachbarland wichtig. Die Lösung soll aber im Einklang mit den Minsker Abkommen unter Gewährung regionaler Sonderrechte für die Gebiete Donezk und Lugansk stehen. Auch die Rückabwicklung der bisherigen restriktiven Politik in humanitären Fragen zählt dazu. Die fortschreitende Zwangsukrainisierung sei keine innere ukrainische Angelegenheit, sagte der russische UN-Vertreter Wassili Nebensja bei einer Sitzung der UNO zum umstrittenen Sprachgesetz.
Bevor wir uns die Frage stellen, ob diese Hoffnungen begründet sind, müssten wir zunächst betrachten, welche Parteien bzw. politische Kräfte überhaupt die besten Ergebnisse bei den Wahlen erzielt haben, und diese mit den Ergebnissen der vorherigen Parlamentswahlen vergleichen.
Im Jahr 2019 erzielten nach Auszählung von 90 Prozent der Stimmen die drei besten Ergebnisse die Partei des amtierenden Präsidenten „Diener des Volkes“ mit 42,5 Prozent Stimmenanteil, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ von Juri Bojko und Wiktor Medwedtschuk mit knapp 13 Prozent und die Partei des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko „Europäische Solidarität“ mit 8,6 Prozent.

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Im Oktober 2014, als das Land nach dem Staatsstreich vorgezogene Wahlen abgehalten hatte, um die Früchte der „Revolution der Würde“ zu festigen, bekamen die „Volksfront“ des damaligen Premiers Arsenij Jazenjuk und der „Block Petro Poroschenko“ jeweils rund 22 Prozent der Sitze, die Partei „Selbsthilfe“ des Oberbürgermeisters von Lwow Andrej Sadowoj bekam elf Prozent.
Dabei existierten die jeweiligen Gewinnerparteien beide Male bei den vorherigen Wahlen in dieser Form noch gar nicht, außer die Partei von Petro Poroschenko. Aber auch diese Partei hatte an den Wahlen 2012 nicht teilgenommen, obwohl die vom Großunternehmer unter dem Namen „Solidarität“ gegründete Partei bereits seit dem Jahr 2001 existierte. Im Zeitraum von 2004 bis 2013 ließ Poroschenko seine Partei allerdings ruhen. Kurz vor dem Staatsstreich entging sie nur knapp der Auflösung wegen zu langer Untätigkeit.

Auch Juri Bojko, der Vorsitzende der „Oppositionsplattform“, führte im Jahr 2014 den „Oppositionsblock“ an. Diesen gibt es noch, nur mittlerweile mit anderen bekannten Gesichtern der einstigen „Partei der Regionen“ als Vorsitzenden. In den letzten Jahren schrumpfte sie zu einer Art Spoiler-Partei und einer Art „Franchise“ des Milliardärs Rinat Achmetow. Sie hat diesmal mit 3,2 Prozent den Einzug in die Werchowna Rada verfehlt.
Derzeit gibt es in der Ukraine keine politischen Parteien im eigentlichen, gewohnten Sinne – also mit einer langen Geschichte, fester Ideologie und gewachsenen Strukturen. Es sind vielmehr für kurze Zeit zusammengeschmiedete Interessen- und Lobbygruppen um bekannte Personen – Unternehmer, Politiker, Beamter, Sportler, Sänger, Schauspieler und zuletzt mit der Scharij-Partei auch Blogger. In dieser Art einer brownschen Bewegung der Werchowna Rada sind Geld und Macht die eigentlichen Triebkräfte, die dem ganzen System Struktur und Festigkeit geben.

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Was aber über Jahrzehnte bleibt, sind die Strukturen der Oligarchie und der sogenannten „Außenverwaltung“. Während des Staatsstreiches im Jahr 2014 und danach traten diese Kontrollmechanismen nur deutlicher als sonst zutage. Es waren ausgerechnet etablierte Oligarchengruppen und westliche Akteure, die mit den Alleingängen des Präsidenten Wiktor Janukowitsch nicht mehr zufrieden waren. Bevor er verfassungswidrig mittels eines bewaffneten Aufstands aus dem Amt entfernt wurde, haben sie ihn mit ihren Medien und gut bezahlten „Aktivisten“ in den Augen der Öffentlichkeit delegitimiert.
Nach Ansicht des ukrainischen Historikers und bekannten Politologen Konstantin Bondarenko haben ukrainische Eliten trotz der engen Anbindung der ukrainischen Wirtschaft an Russland und der Nutzung des Russischen als Geschäftssprache noch in den 1990er Jahren die strategische Entscheidung getroffen, die ukrainische Souveränität an den Westen zu verkaufen. Sie waren mit der Rolle der „Kolonialverwalter“ recht zufrieden. Der antirussisch ausgerichtete Nationalismus war und ist dabei nur ein Mittel zum Zweck der Entfernung von Russland. Diese Rolle entpuppt sich allerdings langsam als Fluch, so der Experte.
Auch nach der Wahl Selenskijs wird die Entfremdung von Russland nicht in Frage gestellt. Die Ukraine habe mit Russland nur die Grenze gemeinsam, schrieb der neue Präsident einmal auf Facebook. Und es ist womöglich nur eine Illusion der russischsprachigen Wähler Selenskijs im Südosten, dass er das drakonische Sprachgesetz rückgängig machen könnte, das dem Ziel der Ausmerzung der russischen Sprache dient. Es wurde am Ende der Legislaturperiode Poroschenkos verabschiedet und ist in der Amtszeit Selenkskijs ohne jeglichen Widerstand seinerseits auch in Kraft getreten.
Seine erfolgreichen Comedy-Projekte „Stadtviertel 95“ und „Diener des Volkes“ haben dabei ausdrücklich russischsprachig funktioniert. Kein Wunder deshalb, dass sein Team untereinander größtenteils Russisch spricht und der Präsident selbst das Gesetz innerhalb weniger Tage mehrmals vor laufenden Kameras verletzt hat, indem er Lokalbeamte auf Russisch gerügt hat. Die Strafe für eine einmalige Verletzung des Gesetzes ist für einen Staatsbediensteten höher als ein monatlicher Mindestlohn.
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Während der Dollarmillionär Selenskij diese Strafe regelmäßig zahlen könnte, kann es sich keine Lehrerin oder kein kleiner Beamter erlauben, dieses Gesetz zu verletzen – jeder Lehrer des Landes bekam vor Beginn des Schuljahres einen Merkzettel mit einer Auflistung der geahndeten Vergehen und der für sie angedrohten Strafen. Russisch ist demnach nicht nur in Pausenräumen und auf Schulfluren untersagt, sondern auch ganz allgemein im öffentlichen Raum.
Auch die Drohungen aus dem Selenskij-Umfeld gegen Poroschenko und seine Beamten, wirksame Strafverfahren gegen sie einzuleiten, sind deshalb vermutlich nur Rhetorik. Möglich ist höchstens eine symbolische Verhaftung Einzelner wegen Wirtschafts- oder Korruptionsdelikten. Ermittlungen und Gerichtverfahren zu solch schweren Verbrechen wie den Morden auf dem Maidan, dem Abschuss des malaysischen Flugzeugs MH17, dem Pogrom in Odessa, den Morden an Journalisten und Politikern, der Anwendung der Artillerie und der Luftwaffe gegen die Zivilbevölkerung im Donbass – all das wird auch unter Selenskij nicht stattfinden. Denn die Resultate solcher Verfahren würden zwangsläufig Fragen zur politischen Verantwortung größerer Teile der derzeitigen ukrainischen Eliten aufwerfen.
Und das ist auch nicht in US-amerikanischem Interesse. Die USA haben nicht vor, sich aus der Ukraine zurückzuziehen, unabhängig davon, wer in Washington oder in Kiew gerade regiert. Der US-Sondervertreter für die Ukraine Kurt Volker hat sich kurz vor den Präsidentschaftswahlen auch so geäußert.
Die USA sind langfristig hier, um die friedliche, starke, demokratische, blühende, sichere Ukraine zu unterstützen, die danach strebt, ihre Grenzen und ihr Territorium einschließlich der Krim völlig wiederhergestellt zu sehen“, schrieb er auf Twitter.
Derzeit befinden sich auf dem ukrainischen Territorium bis zu 1.000 US-Militärs und Berater, die mit dem Aufbau der Militärinfrastruktur für Zwecke der US- und NATO-Armeen betraut sind. Auch Präsident Selenskij und sein Team bleiben mit US-Diplomaten in ständigem Kontakt, um mit ihnen über „Reformen und die russische Aggression“ zu sprechen. Und US-Senatoren oder Gäste wie US-General David Petraeus besuchen weiter regelmäßig das Land. Nicht nur das ukrainische Militär, auch die Medien und das Wahlsystem werden durch ein weitverzweigtes Netz aus gut finanzierten US-amerikanischen NGOs de facto kontrolliert.
Unter solchen Verhältnissen ist in der Ukraine nur eine Fassaden-Demokratie möglich, in der Oppositionsparteien ungefährlich bleiben. Im neuen Parlament sind alle Parteien – bis auf die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit knapp 13 Prozent der Sitze – nicht nur prowestlich, sondern auch betont proamerikanisch. Der Beitritt der Ukraine zu NATO und EU ist vom scheidenden Parlament in der Verfassung festgeschrieben worden. Die ständigen Konsultationen mit den US-amerikanischen Kuratoren und Vertretern der Hochfinanz gelten in den ukrainischen Medien nicht als Zeichen der Abhängigkeit, sondern als „Unterstützung“.
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