Der EU-Abgeordnete Michael von der Schulenburg kennt sich als ehemaliger hochrangiger UN-Vertreter mit dem Völkerrecht bestens aus. Er war viele Jahre in Krisengebieten tätig. Wie er die Lösungen im Ukraine-Krieg und die Zukunft des europäischen Kontinents sieht, berichtete der Experte bei der Eurasien Gesellschaft.
„Was für ein Monster haben wir mit der EUerschaffen?“
Der Ex-Diplomat und EU-Parlamentarier Michael von der Schulenburg bei seinem Vortrag bei der Eurasien Gesellschaft in Berlin am 14. Januar.
Mehrparteienmehrheit im EU-Parlament als ein Haufen hasserfüllter, kriegslüsterner Betonköpfe.
Von Wladislaw Sankin
Michael von der Schulenburg ist ein Mann von Welt. Er kann auf viele Jahrzehnte als hoher Beamter auf diplomatischen und friedensbildenden UN- und OSZE-Missionen weltweit zurückblicken: in Haiti, Pakistan, Iran und im Irak, in Syrien, Afghanistan, Sierra Leone. Er hat Dutzende Konflikt-Schauplätze bereist und weiß aus eigener Erfahrung nicht nur, welche Traumata Kriege in den Gesellschaften hinterlassen, sondern auch, wie man bei den Konfliktparteien Ressentiments überwindet und nach Lösungen sucht.
Er hat gelernt, dass Friedensicherung nach den Prinzipien der UN-Charta das oberste Gebot jedes politischen Handelns sein sollte. Für ihn ist es keine Floskel aus einem langweiligen Vortrag zur Anwendung des Völkerrechts. Das ist mit Blut und Leiden erkaufte Wahrheit, deren Zeuge er war. Im Jahre 2017 fasste er seine Erfahrungen im Buch „Frieden schaffen: Die Rettung des Nationalstaats und die Rettung der Vereinten Nationen“ (auf English erschienen) zusammen.
Nun ist der pensionierte UN-Diplomat Mitglied des EU-Parlaments. Gewählt wurde der 76-Jährige nach einer BSW-Liste. Dabei ist er kein Mitglied der Partei. Ins Parlament kam er mit einem klaren Ziel: die Friedensagenda zur Sprache zu bringen – eben das, was ihm zufolge dort völlig fehlt. Über seine Erfahrung, die er seit Beginn der Legislaturperiode in diesem Gremium gesammelt hat, berichtete der Politiker in einem Impulsvortrag und bei einer abschließenden Diskussion bei der Eurasien Gesellschaft in Berlin.
Die Veranstaltung lief unter dem Titel „Sieben Gründe, warum 2025 kein gutes Jahr für die EU sein könnte“. In seinem Vortrag, der in freier Rede gehalten wurde, brachte der Referent immer wieder sein Staunen zum Ausdruck, wie unterirdisch die politische Kultur in der EU derzeit ist. Es ist keine Übertreibung, wenn man „unterirdisch“ sagt. Von der Schulenburg selbst beschrieb die Mehrparteienmehrheit im EU-Parlament in einem NDS-Artikel als ein Haufen hasserfüllter, kriegslüsterner Betonköpfe. Es sei für ihn schmerzhaft, die täglichen Reden dieser Leute anzuhören:
„Ich frage mich dann: Was für ein Monster haben wir mit der EUerschaffen?“
Nach Trumps Amtsantritt „Vasallen ohne Herr“
Zwei-Drittel der Resolutionen des Parlaments beträfen andere Länder und Regionen, sagte von der Schulenburg vor dem Publikum. In der Regel handele es sich um anmaßende Stellungnahmen und Sanktionsdrohungen. So eine Hass-Sprache habe er in keiner Konflikt-Region der Welt erlebt, beklagte der Politiker, der während seiner einminütigen Rede-Beiträge von anderen Abgeordneten jedes Mal mit Zwischenrufen gestört und als Putin-Marionette beschimpft wurde. „Die Zivilisation der Europäer ist am Boden“, stellte er fest.
Das Absurde dabei sei, dass bei dem ausgesprochenen Transatlantismus der tonangebenden EU-Anführer Ursula von der Leyen, Manfred Weber oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann (alles Deutsche übrigens) Brüssel nach Trumps Amtsantritt ein „Vasall ohne Herr“bleibe. Transatlantisch und großmannsüchtig. Die EU sei wie besessen von Großmachtträumen und möchte den Krieg in der Ukraine für ihre Erweiterung nutzen, wie etwa Preußen im deutsch-französischen Krieg 1870/71 bei der deutschen Reichsgründung. Vom Friedensprojekt der EU sei nichts übrig geblieben, beklagte der Redner.
Eine Erklärung für das aggressive Verhalten liegt ihm zufolge in der Angst der Eliten vor einem eigenen Machtverlust. Sie wollten nicht wahrhaben, dass die Welt sich geändert habe, dass bis zu 90 Prozent der Weltbevölkerung eine andere Meinung zu Konflikten der Gegenwart habe, sei es im Gaza-Streifen oder um die Ukraine. In diesem Zustand der Realitätsverweigerung führe sich die Chefin der EU-Kommission Ursula von der Leyen wie eine Königin auf. Dabei könne die EU niemals ein einheitlicher Staat werden, so von der Schulenburg. Viel eher werde die EU in absehbarer Zukunft zerfallen.
Die Zukunft Europas in Anlehnung an die BRICS-Staaten.
Diese Zukunftsvision betrübt den Politiker allerdings keineswegs. Die Zukunft Europas sieht er in der Anlehnung an die BRICS-Staaten. Im Unterschied zu den westlichen Bündnissen pflege die BRICS eine ganz andere politische Philosophie und setze nicht auf militärische Gewalt und eine „regelbasierte Weltordnung“ („wobei keiner so richtig weiß, was sie bedeutet“), sondern auf die UN-Charta, die auf dem Nichteinmischungs-Prinzip und friedlichen Lösungsansätzen basiert.
Der Referent zeigte eine Weltkarte mit den meisten internationalen Konflikt-Herden seit 1992.
Der Großteil von ihnen liege in der Reichweite Europas – Im Osten und Süden davon – und schneide es von Afrika und Asien ab. „Dabei brauchen wir Asien, allesamt Länder, die östlich von uns liegen: Russland, China, Indien“. Wenn europäische Länder ihr Dominanz-Denken, das sich sogar in der helfenden Tätigkeit in den ärmeren Ländern ausdrückt, aufgeben, bestehe auch eine Chance auf einen Neuanfang in der multipolaren Welt. „Europas Schicksal wird sich in Asien entscheiden“, sagte er, denn diese Länder hätten auch ein Interesse an Frieden und Stabilität auf dem eurasischen Kontinent. „Außerdem lebt dort auch ein Großteil der Weltbevölkerung“.
„Das ist unser Krieg“
Zum Schluss der Fragerunde mit dem Publikum zeigte der Politexperte, wie die Anwendung der UN-Charta und auch der Charta von Paris des Jahres 1990 helfen, den Blick auf das Vorgehen Russlands im Ukraine-Konflikt komplett zu verändern. Er räumte ein, dass auch Russland mit dem Einmarsch in der Ukraine die UN-Charta verletzt habe, aber
„wenn die UN-Charta von allen Akteuren eingehalten worden wäre, wäre es zu diesem Krieg nicht gekommen“.
Die westlichen Staaten und Bündnisse hätten die UN-Charta viel öfter und konsequenter verletzt, angefangen mit der Kündigung von Abrüstungsverträgen über die Bombardierung Jugoslawiens bis zur Finanzierung des Staatsstreichs bei der Maidan-Revolte und der Duldung der Gewalt Kiews gegen die Donbass-Bevölkerung. Und dann, als im Dezember 2021 – zweieinhalb Monate vor dem Einmarsch – Russland gegenüber der NATO und den USA seine Sicherheitsbedenken äußerte,
„hätte man verhandeln müssen, allein wegen der Charta von Paris, die dazu verpflichtet, die Sicherheit des anderen zu respektieren. Aber das hat man nicht getan“.
Der Referent äußerte auch die Ansicht, dass der Krieg in der Ukraine, der laut dem Moderator Alexander Neu „dank Boris Johnson nun ganz offiziell als Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland bezeichnet werden darf“, für Russland existenziellen Charakter habe. Es gehe um den Zugang zum Schwarzen Meer und den Schutz der prorussischen Bevölkerung, das Gerede in der EU vom „imperialistischen Krieg Putins“ sei Unfug, „das sagt nicht mal Trump, der die Schuld am Beginn des Krieges bei Biden und nicht bei Putin sieht“. Der Experte schlussfolgerte:
„Geschichtlich gesehen ist es unser Krieg und nicht Putins Krieg. Da bin ich mir ziemlich sicher.“
Hinweis: Der Video-Mitschnitt des Vortrags von Michael von der Schulenburg wird demnächst auf den Youtube-Kanälen der NachDenkSeiten und der Eurasien Gesellschaft erscheinen.
Wer die Abläufe unvoreingenommen betrachtet, wird nicht umhinkommen, festzustellen: Die EU trägt eine große Mitschuld an der Entwicklung zum Krieg. Der Geist der Charta von Paris wurde von der EU bereits in den 90ern preisgegeben, meint der wirtschaftspolitische Blog Makroskop.
Für die EU wird die Ukraine zum Verhängnis.
Es ist ein melancholischer Beitrag, getragen vom Fatalismus gegenüber dem Unausweichlichen, den Michael von der Schulenburg auf dem wirtschaftspolitischen Blog Makroskop veröffentlicht hat. Der Titel lautet „Wird der Ukraine-Krieg zum Verhängnis für die EU?„, wobei das Fragezeichen am Ende wohl eher rhetorisch gemeint ist.
Klar in der Analyse und ohne die in Deutschland sonst übliche moralische Hybris, die den Blick auf Zusammenhänge verstellt, benennt von der Schulenberg mit einem einzigen Satz, das, was in Deutschland eigentlich unsagbar ist:
„Die EU trägt eine Mitverantwortung an der sukzessiven Zerstörung der Ukraine.“
Er ergänzt:
„Sie verfolgt zudem eine geradezu selbstzerstörerische Außenpolitik.“
Für den Ex-Diplomaten ist klar, dass Europa gescheitert ist, an sich selbst gescheitert, an der Idee eines geeinten Europa, so wie sie in der Charta von Paris formuliert wurde.Der Glaube, dass Konflikte in einer guten Art und Weise militärisch gelöst werden könnten, ist zurück und damit der Verzicht auf Diplomatie. Europa wiederholt seine Fehler, hat aus der eigenen Geschichte nichts gelernt.
„In Europa herrscht wieder der Wahnsinn des Krieges. Der Irrglaube, dass nur Waffen Sicherheit bringen können, hat erneut Hochsaison unter europäischen Politikern, in europäischen Denkfabriken und den Medien.
Es mag seiner Arbeit bei den Vereinten Nationen und der OSZE geschuldet sein, dass von der Schulenberg nicht banal und einseitig, wie das in Deutschland üblich ist, den „unprovozierten Angriff Russlands auf die souveräne Ukraine“ verurteilt und die Lösung des Konflikts darin sieht, dass sich Russland aus der Ukraine vollständig zurückzieht. Das sind naive Positionen, die von einem mangelnden Willen zeugen, die Komplexität des Konflikts und seine Vorgeschichte zur Kenntnis zu nehmen.
Der Friedenspolitiker sieht deutlich, dass dieser Krieg ein Krieg zwischen der NATO und Russland ist, der in der Ausdehnung der NATO seine Ursache hat.
„Die Möglichkeit einer auf Vernunft und gegenseitigem Verständnis basierenden friedlichen Lösung des dem Krieg zugrundeliegenden Konfliktes über die Ausweitung der NATO zu finden, scheint in der nun herrschenden kriegerischen Atmosphäre in Europa nicht in Betracht gezogen zu werden. Diese erschreckende Unverantwortlichkeit können wir Europäer nicht nur Russland oder den Vereinigten Staaten anlasten. Auch die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten tragen eine Verantwortung für die Katastrophe, die nun Europa befallen hat – vielleicht sogar die maßgebende Verantwortung.“
Dieser Satz nimmt das Ende des Krieges auch vorweg: Russland bekommt die Sicherheitsgarantien zugestanden, um die es noch im Dezember 2021 nachgesucht hat. Entweder durch das Zurückdrängen der Ukraine oder durch Verhandlungen. Dass es allerdings zu Verhandlungen kommen könnte, sieht der Autor skeptisch.
“Mit dem Ausbruch des Krieges hat sich die EU nach anfänglichem Zögern sogar zu einer militärischen Eskalation des Konflikts hinreißen lassen, die heute selbst jene der USA übertrifft. […] Dabei sollte doch Frieden und nicht Krieg das Hauptanliegen der EU sein. Dennoch hat die EU weder einen eigenen Friedensplan entwickelt noch eine diplomatische Friedensinitiative unternommen und lehnt selbst einen Waffenstillstand strikt ab.”
Die Verantwortung für den Verlust der Idee eines friedlichen, zusammenwachsenden, gemeinsamen Hauses Europa sieht von der Schulenberg bei der frühen Abkehr der EU vom Geist der Charta von Paris. Der Eskalationswille der EU ist gerade im Hinblick auf die Ukraine deutlich erkennbar, die von der EU zu einer Entweder-oder-Entscheidung gedrängt worden war.
„Auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 zeugten die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen regelmäßig von der tiefen Spaltung des Landes in zwei etwa gleichgroße pro-ukrainische und pro-russische Bevölkerungsteile. Eine Spaltung, die auch das Land geographisch zwischen der West- und Zentralukraine einerseits und der Ost- und Südukraine anderseits teilt. […] Wäre es der EU wirklich um den Erhalt und Stärkung der Ukraine gegangen, hätte sie den Zusammenhalt und das Harmoniebestreben zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen unterstützen müssen. Die EU hätte die Fortsetzung des Projekts einer binationalen und föderalen Ukraine, wie es 1991 proklamiert wurde, mit aller Kraft fördern sollen. Sie hat das Gegenteil gemacht und sich auf die Seite einer von einem mono-ethnisch ukrainischen Nationalismus geprägten Politik gestellt.„
Aber die Politik der EU schadet nicht nur der Ukraine, sondern auch ihr selbst. Sie verliert den Zugang zu russischen Ressourcen. Der durch die Sanktionen errichtete neue Eiserne Vorhang könnte noch undurchlässiger sein als der des Kalten Krieges, meint von der Schulenberg. Die EU begibt sich in eine gefährliche Abhängigkeit zu den USA und schaufelt sich ökonomisch ihr eigenes Grab.
Die EU müsse zu einer Sprache des Friedens zurückfinden, fordert er.
„Dazu wird sie Mut brauchen – Frieden braucht sehr viel Mut.“
Dass es an diesem Mut gerade fehlt, macht seine Analyse allerdings auch deutlich. Impulse für den Frieden kommen aus allen Teilen der Welt. Selbst die USA diskutieren über den Ausstieg aus der Eskalation. Nur aus der EU kommt nichts, was dem Frieden oder auch nur dem Selbsterhalt dienen könnte.